Bernd Ahrbeck: Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus der Arbeit der Hamburger Aufsichtskommission

Ausschnitt aus einem Vortrag beim Workshop “Qualitätsstandards für freiheitsentziehende Maßnahmen“ vom 09. bis 10. Juli 2008 in Eisenach

1. Vorüberlegungen

Im Anschreiben, in dem mich Herr Karl Späth freundlicherweise um einen Beitrag zu dieser Fachtagung gebeten hat, heißt es: „Uns würde vor allem Ihre Einschätzung interessieren, ob auf der Grundlage der Hamburger Erfahrungen auch in anderen Bundesländern solche Aufsichtskommissionen sinnvoll und wünschenswert wären, um unabdingbare fachliche Standards für diese Arbeit und die Rechte der betroffenen Minderjährigen zu sichern“. Das ist eine ernste und nicht leicht zu beantwortende Frage.

Um darauf eine Antwort zu geben oder einer Antwort näher zu kommen, muss zunächst ein etwas größerer Bogen gespannt werden. Mit der Frage der Sinnhaftigkeit einer geschlossenen, man sollte besser sagen: einer verbindlichen Unterbringung, habe ich mich seit Anfang der 1990er Jahre beschäftigt, damals zunächst im Hinblick auf Grenzsetzungen im Erziehungsprozess; später in einer sehr intensiven Arbeit in der Hamburger Enquete-Kommission zur „Jugendkriminalität und ihre(n) gesellschaftlichen Ursachen“ – das war von 1998 bis 2000 und endete übrigens seitens der fachlichen Gutachter mit einem Votum für eine verbindliche Unterbringung (S. 221, 239) und nicht zuletzt in der Aufsichtskommission für die geschlossene Einrichtung in Hamburg (2005 – 2008). Wie Sie wissen, wird diese Einrichtung nunmehr aufgrund des neuen Koalitionsvertrages aufgelöst.

Eine geschlossene Unterbringung mag man aus sehr unterschiedlichen (sozial-)po-litischen, kriminologischen, psychiatrischen, psychologischen und pädagogischen Perspektiven betrachten. Mein Ausgangspunkt ist ein psychologischer und pädagogischer, insbesondere ein psychoanalytischer. Ich habe mich immer wieder gefragt, welcher Dynamik es unterliegt, dass die Frage des Für und Wider einer verbindlichen Unterbringung für einen kleinen Personenkreis, der bundesweit zwischen 200 und 300 Kinder und Jugendliche umfasst, in der öffentlichen und fachlichen Diskussion einen so riesigen Stellenwert einnimmt. Dazu gehört auch und insbesondere, dass das geschlossene Heim in Hamburg über Monate bis Jahre in der örtlichen und zum Teil auch überregionalen Presse ein bevorzugtes Thema war und im politischen Raum zu einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss geführt hat.

In der öffentlichen Diskussion verblassen pädagogische Begründungen hinter dem für zentral gehaltenen Konflikt um eine offene Erziehung oder geschlossene Unterbringung. Es hat den Anschein, als bestünde die eigentlich entscheidende Frage darin, ob der Kampf für oder gegen geschlossene Einrichtungen gewonnen oder verloren werden kann. Das ist heute nicht anders als vor 20 Jahren. Dabei stehen sich zwei weitgehend separierte, letztlich gespaltene Bilder dieser Kinder und Jugendlichen gegenüber. Das eine betont ihre Gefährlichkeit und die Notwendigkeit sozialer Kontrolle, das andere Bild akzentuiert ihre gesellschaftlich produzierten Schädigungen und will ohne Mauern und Einschluss helfen. Kinder und Jugendliche dürften nicht zu Sündenböcken für gesellschaftliche Versäumnisse gemacht und stellvertretend bestraft werden.

Gemeinsam ist beiden Positionen der Anspruch, für die Gesellschaft und die Heranwachsenden das „Beste“ zu wollen, verbunden mit der scheinbar unumstößlichen Sicherheit, dass allein der jeweils vorgeschlagene Weg der einzig richtige sei. Die dazu gehörigen Argumentationen werden in einiger Monotonie vorgetragen, ohne dass es zu einem wirklichen Dialog kommt. Ganz offensichtlich besteht hier ein erheblicher äußerer und innerer Legitimationsbedarf. Dazu einige psychologische Überlegungen.

2. Der schwierige Weg zu einem haltenden inneren Rahmen

Aus psychologischer und psychodynamischer Sicht ergibt sich dieser Legitimationsbedarf nicht zufälligerweise. Und es ist auch kein Zufall, dass er in der soeben skizzierten radikalisierten und teils dramatisierten Form in Erscheinung tritt.

Den Hintergrund dafür bilden unerkannte und deshalb unbearbeitet bleibende Verstrickungen, die aus der schwierigen Beziehungsdynamik zwischen den Kindern und Jugendlichen einerseits und den Erwachsenen auf der anderen Seite resultieren. Die ungelösten inneren Konflikte und strukturellen Beeinträchtigungen der Persönlichkeit, die die betreffenden Jugendlichen aufweisen, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie führen zu einer archaischen Beziehungsgestaltung, der nur schwerlich und mitunter gar nicht mehr standgehalten werden kann. Sehnsuchtsvolle Wünsche und Rettungsphantasien, Hilflosigkeit und Ohnmacht, Entwertung und Beschämung, offene und verdeckte Aggressivität, Wut, Rachewünsche und Resignation sind die dazu gehörigen Ingredienzien.

Wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe, aktiviert die Frage nach einer geschlossenen Unterbringung in besonderer Weise die Schuld- und Schamproblematik derjenigen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Zur eigenen Entlastung wird deshalb häufig eine spaltende und projektive Abwehr eingesetzt. Sie soll zu einem Freispruch vor dem inneren Richter – dem Gewisse – führen und ebenso zu einem Freispruch für die eigenen uneingelösten Ideale. Dies gilt auch für die beiden oben genannten Extrempositionen, ein radikales Für und Wider, wobei die Begründungen austauschbar sind. Wer entschieden interveniert und tatkräftig unerträgliche Zustände beendet, kann sich schuldfrei fühlen und muss den eigenen Wert nicht bezweifeln. Als schuldfrei und im Selbstwert unbeschädigt mögen sich auch diejenigen erleben, die auf eine für inhuman gehaltene Erziehungsgewalt in geschlossenen Einrichtungen verzichten und Kinder und Jugendliche in Freiheit belassen wollen. Schuld und Scham werden bei dem anderen untergebracht. Deshalb kann auch nicht von einer unaufgeregten und distanzierten Position aus darüber nachgedacht werden, was die Betroffenen für eine gute Entwicklung benötigen.

Was hier fehlt, ist eine psychische Integration, eine gesicherte innere Mitte. Sie setzt voraus, dass ein Ausgleich zwischen den extremen Polen gefunden wird. Das bedeutet unter anderem, dass eine innere Balance zwischen Macht und Ohnmacht, Idealisierung und Resignation, erlittenen Kränkungen und Entwertungswünschen gelingt und es zu einer Anerkennung und Versöhnung mit der eigenen Aggressivität kommt. Das ist eine schwierige und störungsanfällige Aufgabe, die sich wohl kaum jemals abschließend lösen lässt. Sie stellt für jeden, der mit ihr zu tun hat, eine erhebliche Herausforderung dar.

Ihre Lösung ist jedoch zwingend notwendig: Denn erst sie ermöglicht eine umfassende Wahrnehmung der zu betreuenden Kinder und Jugendlichen, die nunmehr zugleich als Opfer und Täter in Erscheinung treten können. Als Opfer sozialer und familiärer Verhältnisse, aber auch als Täter, als Akteure ihrer eigenen Entwicklung. Damit ist eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen, dass ihnen in der Beziehung und im pädagogischen Prozess adäquat begegnet werden kann.

Ich möchte dies hier nicht im Einzelnen ausführen: Unumgänglich ist jedoch der Verweis darauf, dass diese Personengruppe auf lang anhaltende und intensive Beziehungs- und Erziehungserfahrungen angewiesen ist. Dazu bedarf es eines klar strukturierten, begrenzenden und gleichwohl haltenden und aufnehmenden Rahmens. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Es geht einerseits um einen Halt, der unmittelbar durch Personen vermittelt wird, und weiterhin um das pädagogischer Setting als äußere Rahmenbedingung, das ebenso gesichert sein muss. Erst vor diesem Hintergrund kann sich die aufgeladene innere Erlebniswelt der Kinder und Jugendlichen beruhigen, so dass Konflikte gelöst und psychische Strukturen gestärkt werden. Sodann können sie ihr Leben auf eine weniger problematische Weise gestalten.

Die psychologischen Begründungen dafür liegen auf der Hand. Sie finden sich in der Containertheorie und der projektiven Identifizierung, der Intaktheit mütterlicher wie väterlicher Funktionen, dem Namen des Vaters (le nom du pčre), der Kraft des Gesetzes, hier der Anerkennung psychologischer Gesetzmäßigkeiten usw.

Ein solcher Rahmen stellt die Basis der pädagogischen Arbeit dar. Er ist von hohem Wert und muss vor jeder unnötigen Beschädigung geschützt werden. Oder genauer formuliert: Das Ringen um einen haltenden Rahmen bedarf in einem nie ganz abschließbaren und störbaren Prozess einer verlässlichen und nachhaltigen Unterstützung.

Damit komme ich zur Einrichtung selbst.

3. Die Einrichtung als institutioneller Container

Auch sie benötigt einen haltenden Rahmen, Schutz und eine gesicherte und sichernde äußere Unterstützung. Sie bedarf eines klaren gesellschaftlichen Auftrages und der Gewissheit, dass Kritik, wie auch immer sie aussehen mag, vor einem prinzipiell anerkennenden Hintergrund erfolgt. 1

Zumindest für einige der geschlossenen Heime ist es fraglich, ob diese Bedingung erfüllt wird. Für die Hamburger Einrichtung jedenfalls war dies nicht der Fall. Ihre Existenz wurde von unterschiedlicher Seite infrage gestellt, in einiger Hartnäckigkeit, unter anderem auch von Mitgliedern der Aufsichtskommission selbst.

Wen Einrichtungen – wie in Hamburg geschehen – fast permanent unter einem starken öffentlichen und/oder fachlichen Druck stehen oder gar wiederholt massiven Verdächtigungen und Vorwürfen ausgesetzt sind, entsteht ein schwer erträglicher Zustand. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geraten dadurch in Situationen, die sie selbst bei bester Gegenwehr nicht unberührt lassen können. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich dadurch erzwungenermaßen darauf, dass die Einrichtung selbst erhalten bleibt und ein institutionell gesicherter Rahmen wieder hergestellt wird. 2 3

In einer Atmosphäre von im Extrem als vernichtend gedachten oder so erlebten Angriffen ist auch die pädagogische Arbeit in der Einrichtung bedroht. 4 Es wird dann nur unter Aufbietung großer Kräfte möglich sein, den Kindern und Jugendlichen den dringend benötigten schützenden Rahmen zu bieten. Denn die Bedrohung, von der ich spreche, lässt sich letztlich nicht auf den institutionellen Rahmen beschränken. Sie erstreckt sich auch auf die Innenwelt der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die auf einen gesicherten inneren Raum angewiesen sind, damit sie ihre schwierige Arbeit bewältigen können. Dieser Raum wird – wie zuvor ausgeführt – bereits durch die Kinder- und Jugendlichen reichlich strapaziert. Jede weitere Front ist eine zuviel. Eine zweiseitig ausgerichtete Auseinandersetzung, ein Kampf an zwei Fronten, wird sich langfristig nur schwerlich gewinnen lassen.

 


1 Damit wird nicht die Abwesenheit von Kritik gefordert, das wäre abwegig, wohl aber zwischen einer zum Nachdenken anregenden und einer vernichtend gedachten Kritik unterschieden. Gefängnisse und Psychiatrien befinden sich hier insofern in einer anderen Situation, als ihre Existenz nicht angezweifelt wird.
2 Es ist schon bemerkenswert, mit welcher hemmungslosen Aggressivität Mitarbeiter der Hamburger Einrichtung angegriffen worden sind und mit welchen Mitteln versucht wurde, sie bloß zu stellen. Das gilt für die Medien ebenso wie für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss.
3 Klugerweise hat eines der Kommissionsmitglieder zu beginn der Arbeit den Vorschlag gemacht, man möge die Hamburger presse bitten, von ihren Berichterstattungen über das geschlossene Heim in Hamburg Abstand zu nehmen.
4 Vernichtend sind solche Angriffe dann, wenn sie sich gegen die Existenz der Einrichtung, den konkreten Arbeitsplatz, die eigenen Werte und Überzeugungen richten.